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„Noch etwas Tee vielleicht?“
„Lieber nicht“, erwiderte Kjell. „Es ist etwas warm hier.“
Er hatte nur zwei Stunden geschlafen, weil er auf dem Heimweg bei dem Versuch, den Lastwagenschlüssel aus dem Briefkasten der Autovermietung zu angeln, von zwei Wachleuten erwischt worden war. Kjell hatte beteuert, dass er Polizist sei und sein Ausweis im Lkw läge. Das war der Beginn einer einstündigen Komplikation gewesen, mit Dialogen, die man sonst nur in Komödien von Shakespeare fand. Erst der Kriminaldienst konnte Kjell von dem Verdacht befreien, ein Irrer zu sein. Zu dem Zeitpunkt war er sich selbst nicht mehr sicher gewesen.
Priya erhob sich und ging zu der Tür. Sie öffnete sie nur einen Spalt weit. Kjells Blick fiel auf einen viel größeren Raum, in dem Hunderte von Lämpchen blinkten. Priya schloss die Tür und setzte sich wieder Kjell gegenüber, um ihn weiter anzustarren und dabei zu lächeln.
„Wir müssen neben dem Server arbeiten, damit es keine Datenleitungen gibt, die man anzapfen kann.“
Die Hitze der Großrechner war wahrscheinlich der Grund, warum die kleine Inderin nur eine dünne Seidenhose und ein T-Shirt ohne Ärmel trug. Sie war so jung wie Sofi.
„Er enthält unter anderem einen der besten Daten-Crawler der Welt.“
„Daten-Crawler?“
„Das ist eine Suchmaschine“, rief Jonas Gulliksson von seinem Schreibtisch aus. Priyas Kollege saß seit einer halben Stunde vor seinem Computer und testete die Buchstabenkolonne des Kryptos. „Wie Google.“
„Nur viel besser“, ergänzte Priya, ohne mit dem Starren und dem Lächeln aufzuhören.
Sie war vor einigen Jahren aus Neu-Delhi nach Schweden gekommen, um in Lund Mathematik und Computerwissenschaft zu studieren. Das hatte sie ihm bereits erzählt. Zwei Tage nach der Zwischenprüfung hatte die Säpo an ihre Tür geklopft, um ihr einen Arbeitsvertrag zur Unterschrift vorzulegen, mit dem sie zugleich die schwedische Staatsbürgerschaft annahm. Das viele Geld hatte sie nicht zögern lassen.
„Ich hab den Crawler-Algorithmus selbst geschrieben. Wir haben natürlich im Kernel des Google-Zentralrechners einen Bot versteckt, damit wir die Stärke vergleichen können. Unser Algorithmus ist viel besser.“
„Verstehe“, sagte Kjell.
Die Einsamkeit bei der Säpo hatte Priya jede Zurückhaltung genommen. Wahrscheinlich hatte sie die Tür nur geöffnet, damit sie ihr Werk wenigstens einem Menschen zeigen konnte.
„Die Tests sind gelaufen“, rief Jonas.
Kjell fühlte sich erlöst. Er stellte sich mit Priya hinter Jonas und betrachtete den Bildschirm, der nichts als die vier Buchstabenreihen zeigte.
„Wir glauben weniger, dass es ein chiffrierter Text ist“, sagte Kjell und blickte Priya an.
Versunken in die Buchstabenreihe nickte die kleine Frau.
„Eher die Chiffre selbst“, fügte Kjell hinzu und erklärte den Grund für diese Annahme.
Auf einmal erschienen lauter kleine Fenster auf dem Bildschirm. Jonas seufzte.
„Was glaubst du?“, fragte Jonas seine Kollegin. „Haben wir ein Problem?“
„Ich sehe ein Problem in den beiden Cs in der Anfangssequenz.“
Die erste Zeile begann mit den Buchstaben SLICLVC.
Jonas drehte sich zu Kjell um. „Im diplomatischen Dienst haben sie lange mit Vigenère-Verschlüsselungen gearbeitet. Das hier ist aber keiner.“
„Ein Schlüssel kann es aber auch nicht sein“, meinte Priya und deutete wieder auf die Anfangssequenz. „Mach mal einen Schieberegisterdurchlauf.“
Jonas öffnete ein anderes Programm, das die Buchstaben in Zeilen und Spalten wie Schachfiguren hin und her schob.
„Wo liegt das Problem?“, fragte Kjell, der die Situation nicht einschätzen konnte. Auch mit dem Zählen seiner Probleme hatte er aufgehört.
„Es ist keine moderne Kryptographie, aber antik ist sie auch nicht“, vermutete Jonas. „Wir werden es ordentlich durchtesten müssen.“
Nach einer Viertelstunde hatte Jonas alle Chiffren- und Konfusionstests abgeschlossen. Priya hatte die ganze Zeit auf den Bildschirm gestarrt und nur hin und wieder etwas gesagt.
„Es ist definitiv komplex“, murmelte Jonas. „Sieht aber einfach aus. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Auch wenn ihr mich für dumm haltet“, sagte Kjell. „Aber könnte es keine Sprache sein?“
„Das habe ich gleich am Anfang getestet. Unsere Datenbank ist vollständig bis auf einige Sprachen aus Papua-Neuguinea.“
„Sind auch alle antiken Sprachen in deiner Datenbank?“
„Sogar Klingonisch. Er testet sogar die typologischen Merkmale der Sprachfamilien. Bei keiner hat er eine signifikante Wahrscheinlichkeit gefunden.“
„Mach den K-Test“, forderte Priya.
Jonas warf einen verwunderten Blick über seine Schulter und rief dann ein neues Programm auf. Nachdem Jonas den Text in das Eingabefenster kopiert hatte, deaktivierte er alle Optionshäkchen und drückte auf Suchen. Das Programmfenster bestand aus einem schwarzen Bereich, auf dem wie bei einem Oszillografen Kurven erschienen und wieder verschwanden. Darunter ratterte die Buchstabenfolge entlang und wurde in sinnlose Wörter segmentiert. Das Programm probierte und verwarf.
„Kennst du den Unterschied zwischen Konsonanten und Vokalen?“, fragte Priya.
Kjell nickte und erklärte den Unterschied.
„In der höheren Sprachwissenschaft ist der Übergang zwischen Vokalen und Konsonanten fließend. Wie du in der Schule gelernt hast, ist ein Laut ein Vokal, wenn sich Unter- und Oberkiefer beim Sprechen in keinem Punkt berühren. Bei einem Laut wie Jot ist das schon schwierig. Da berührt die Zunge den Gaumen schon ganz leicht. Das nennt man dann Halbvokal. Phonetisch gesehen kann man jeden Laut auf einer Skala der Konsonantizität einordnen. Am wenigsten konsonantisch ist das A, am stärksten die Konsonanten P und T. Alle anderen Laute liegen dazwischen. Das I ist zum Beispiel ein bisschen konsonantischer als das A, weil der Kiefer beim Sprechen geschlossener ist. Das P ist konsonantischer als ein F, weil beim P die Lippen erst ganz geschlossen sind, beim F aber nicht. Je stärker der Verschluss, desto höher die Konsonantizität, so einfach ist das. Das Programm stellt die Konsonantizität auf der x-Achse dar. Ganz unten im Nullpunkt liegt A, ganz oben das P. Die y-Achse ist der Sprechverlauf eines Wortes, also die Zeit, die beim Sprechen vergeht.“
Kjell starrte auf den Bildschirm und sah dabei zu, wie das Programm zackige Kurven in schöne weiche Sinuskurven verwandelte.
„Dabei hat man etwas herausgefunden“, fuhr Priya fort. „Bei allen Sprachen der Welt entwickelt sich die Silbenstruktur so, dass eine Silbe sehr konsonantisch beginnt und endet. Dazwischen liegt der Silbenkern mit einem Laut von ganz geringer Konsonantizität, im Normalfall ein Vokal. Alle Sprachen streben Silbenstrukturen an, die auf diese Weise einen streng monotonen Graphen ergeben. Das sind diese Kurven da. Es beginnt oben, fällt ab und geht wieder hinauf. Die Silben- und Wortgrenzen sind dort, wo die Kurve ihr Maximum erreicht und wieder fällt.“
Das Programm kam zum Stehen. „Seht ihr das?“, sagte Jonas. „Bei der zweiten und vierten Zeile sehen die Steigungen wie die Gefälle in der ersten und dritten Zeile.“
„Was bedeutet das?“, fragte Kjell.
„Schau mal, hier ist ein schwedischer Satz zum Vergleich. Da ist es immer gleich. Also musst du die erste und vierte Zeile rückwärts lesen.“
Kjell deutete auf die saubere Kurve. „Wenn es chiffriert wäre, dann hätten man nicht so eine schöne Kurve, oder?“
Jonas nickte. „Dann wäre es ungleichmäßig, viele aufeinanderfolgende Flachpunkte.“
„Wollt ihr damit sagen, dass der Text eine natürliche Sprache sein soll?“
Priya nickte und lächelte. „Bei Verschiebe- und Vertauschchiffren hängt es vom Zufall ab, ob man ein reines Zickzack bekommt. Das können wir vernachlässigen.“
„Die Sprache ist jedoch nicht in deiner Datenbank.“
„Es muss eine unbekannte Sprache sein. Wahrscheinlich künstlich wie Esperanto. Aber im Gegensatz dazu ist sie von keiner bekannten Sprache abgeleitet. Kunstsprachen sind normalerweise von natürlichen Sprachen abgeleitet. Der Test zeigt, dass es eine Sprache mit mehrsilbiger Wortstruktur und wiederkehrenden Silben am Wortende ist. Also haben wir es mit einer flektierenden Sprache zu tun. So viel ist sicher.“
„Könnte es Ähnlichkeit mit dem Türkischen haben?“
„Auf keinen Fall. Der Test kann kein einziges Wort den Turksprachen zuordnen. Ebenso wenig dem Semitischen und dem Indogermanischen.“
Kjell hatte ein Déjà-vu. Etwas Ähnliches hatte ihm die Rechtsmedizin in der Nacht erzählt. „Was mache ich jetzt?“
„Du kannst nichts machen“, erwiderte Priya. „Ihr werdet diesen Text niemals lesen können.“